Aktuelle Forschungsprojekte zu Jacob Böhme
Giulia Baldelli: Form des Formlosen. Jacob Böhmes Poetik des mystischen Schreibens (AT)
Das Dissertationsprojekt untersucht zunächst anhand von ausgewählten Autographen, Abschriften und Drucken die Überformung und Veränderung der Textgrundlagen, die durch die handschriftliche Zirkulation von Böhmes Schriften sowie den Übergang in deren weitere Druck- und Rezeptionsgeschichte entstanden. Anhand der mikro- und makrotextuellen Analyse der Textgestalt der Autographen und Drucke sowie der deren Organisation und Komposition sollen Merkmale von Böhmes Schreiben und dessen rezipierendem Überschreiben herausgearbeitet werden – zunächst auch um die meist unhinterfragt zitierten Böhme-Gesamtausgaben als Produkte ihres Entstehungsprozesses zu reflektieren. Welche konkreten Konsequenzen ergeben sich beispielsweise aus der in den Drucken eingeführten Paragraphierung und Nummerierung für das Lesen und Interpretieren bestimmter übergreifender Argumentationsstränge und wie ließen sich die Texte Böhmes ohne diese einschneidenden Maßnahmen im Lichte seines Denkens lesen? Zweitens sollen besonders die handschriftlichen Zeugnisse an verschiedene texttheoretische Diskurse angeknüpft und auch mit Böhmes eigenem (sprachphilosophischen) Denken und Verfertigen dieser Gedanken als mystisches Schreiben zusammengeführt werden.
Thomas Isermann: Jacob Böhme und die Psychologie
Als eigenes Forschungsthema hat sich Jacob Böhmes Beitrag zur Geschichte der Psychologie entwickelt. Die Philosophie Jacob Böhmes (1575–1624) stellt eine Reflexion der biblischen Erzählung von der Genesis bis zur Offenbarung dar, mithilfe einer das Alte und das Neue Testament überspannenden Deutungsarbeit und Heilslehre. Von einer darin integrierten Psychologie bei Jacob Böhme zu sprechen, berechtigen uns die Merkmale einer komplexen Seelenlehre. Ferner bietet sie ein Heilskonzept seelischer Probleme – wie etwa der Melancholie – an, deren Entstehung und Heilung sich historisch am Panorama des christlichen Heilsplans orientiert. Die durch Visionen unterstützte, als wundersam wahrgenommene und sozial durchgesetzte Wissensaneignung legitimiert den Schreiber Böhme vor den Zeitgenossen für eine Seelenführerschaft, die weithin die Institution Kirche kritisiert. Die Psychologie Böhmes formuliert die Erlösung der Subjekte paradoxal in einem Verhältnis von geforderter Selbst-Erkenntnis und erlangter Selbst-Negierung, die in Zustände wie den der „Erleuchtung“ oder der „Gelassenheit“ führen soll. Diese Psychologie Jacob Böhmes gewährt einen neuen Gesamtblick auf das Werk des Görlitzer Philosophen, weil sie bislang disparat erscheinende Momente in Böhmes Philosophie zu einem nachvollziehbaren System zusammenfasst. Im Rahmen dieses Projektes werden Spuren einer Rezeption Böhmes in der Psychologie des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet.
Die Thesen zur Psychologie bei Jacob Böhme wurden auf der Tagung 2018 der Deutschen Gesellschaft zur Geschichte der Nervenheilkunde besprochen und im Jahresband publiziert. Weitere Veranstaltungen zum Thema Psychologie bei Jacob Böhme werden von Thomas Isermann durchgeführt.
Kontakt: t.isermann@gmx.de
Leigh Penman: Prosopographie der Kontakte Jacob Böhmes
1624 erwähnt Böhme „mehrere hundert“ Menschen in Schlesien, Sachsen, der Oberlausitz und im norddeutschen Raum, die bereit gewesen wären, seine Schriften gegen Verleumdung zu verteidigen. In Böhmes Schriftverkehr werden namentlich wenigstens 140 Personen genannt, die als Leser, Kritiker und Kopisten sowie für die weitere Verbreitung seiner Schriften eine wichtige Rolle spielten. Als solche trugen sie nicht nur zur Sicherung von Böhmes Ansehen in der Geschichte bei, sondern gestalteten auch die Ausrichtung und den Inhalt seines theosophischen Werkes mit. Dennoch wissen wir nur wenig über das Leben, Denken und Schreiben derer, die sich in Böhmes Wirkungskreis aufhielten und ihn ermutigten. Im Rahmen dieses Projekts sollen die prosopographischen Daten zu den erwähnten Personen in Böhmes Schriftverkehr und anderen Dokumenten der Zeit gesammelt und so Böhmes Welt und dessen Rezeption beleuchtet werden. Die Publikation dieses Datenmaterials wird die Erforschung von Böhmes Werk durch die erstmalige Bereitstellung von Informationen zu Herkunft, Bildung, Interessen und Bestrebungen der Schlüsselfiguren in Böhmes Umfeld wesentlich voranbringen. Zudem werden die Netzwerke des Späthumanismus in Schlesien, der Lausitz, Sachsen und darüber hinaus neu beleuchtet.
Leigh Penman: Überarbeiteter Katalog der erhaltenen deutschsprachigen Manuskripte
Werner Buddeckes grundlegendes Verzeichnis der Handschriften und frühen Abschriften Böhmes von 1934 diente der Böhmeforschung lange als verlässlicher Bibliographie seiner Manuskripte. Durch seine Beharrlichkeit und hohe Forschungsstandards erschuf Buddecke eigenhändig eine solide Basis für eine künftige wissenschaftliche Beschäftigung mit Böhmes Werk und dessen früher Rezeption. Seit der Publikation dieses wichtigen Katalogs konnten weitere frühe Manuskripte identifiziert werden. Matthias Wenzel unterzog Buddeckes Band der dringend notwendigen Überarbeitung und Erweiterung und gab ihn 2000 unter Mitarbeit von Daniela Friese und Karin Stichel neu heraus. Seit dieser Publikation sind jedoch über 80 weitere Abschriften entdeckt worden – einschließlich wichtiger Materialbestände in Bibliotheken und Sammlungen in der Schweiz und in Polen. Dieses Projekt umfasst das deutschsprachige Manuskript-Material und wird eine weitere Erweiterung und, wo notwendig, Überarbeitung von Buddeckes wichtigem Referenzwerk leisten.