Projektleiter:
Prof. Dr. Gabriel Viehhauser (Stuttgart)
Dr. Rostislav Tumanov (Stuttgart)
Der von Giovanni Domenico Tiepolo zwischen 1797 und 1804 geschaffene Bildzyklus Divertimento per li Regazzi ist ein Korpus von 104 Zeichnungen, die allesamt die Figur des Pulcinella zeigen. Eine Figur also, die der Commedia dell’Arte entstammt, aber auch gerade im Bereich des Puppentheaters oder als Karnevalskostüm bzw. Straßenunterhalter große Verbreitung fand. Nimmt man eine von Blatt zu Blatt anhaltende personelle Konstanz der äußerlich kaum unterscheidbaren Pulcinelli an, so kann man in dem Zyklus ein biographisches Narrativ erkennen, das den Weg einer oder vielleicht auch mehrerer Pulcinella-Figuren von der Wiege bis zur Bahre nachzeichnet. Aufgrund zahlreicher variierender Wiederholungen oder sich offensichtlich widersprechender Darstellungen ist es jedoch nahezu unmöglich, sie alle zu einer konzisen Erzählung zu verbinden. Im Gegensatz zu einem ‚gewöhnlichen‘ narrativen Bildzyklus gibt es keine klar erkennbare Anordnung der Blätter, keinen eindeutig intendierten Erzählverlauf. Stattdessen wird dem Betrachter ein weiter Spielraum eröffnet, innerhalb dessen eine Vielzahl unterschiedlicher Geschichten konstruiert werden können, da die einzelnen Zeichnungen sich entsprechend diverser Verknüpfungsprinzipien zu unterschiedlichen Sequenzen ordnen lassen. Diese Form der erzählerischen Kombinatorik kann als eine bildkünstlerische Umsetzung der Aufführungspraxis der Commedia dell’Arte bzw. des zeitgenössischen Puppentheaters begriffen werden. Deren Grundlage bildeten umfangreiche, auf diverse Weise kombinierbare Repertoires von Texten, Bewegungen, Tricks etc., die jeder Darsteller bzw. Puppenspieler sich erarbeiten und memorieren musste.
Als ein solcher ‚externalisiertes Repertoire‘ gleicht Tiepolos Zyklus damit in seinem Beziehungsgeflecht einem syntagmatisch wie paradigmatisch strukturierten Hyper-Text, dessen komplexe Struktur sich nur im digitalen Medium adäquat fassen lässt. Um diese dynamische, grenzüberschreitende Perspektive sichtbar zu machen, findet eine Aufbereitung des Zyklus mit digitalen editorischen Mitteln statt, wie sie normalerweise bislang vor allem auf Texte angewandt werden. Dabei spielt die Modellierung des Bildzyklus in Graphdaten eine entscheidende Rolle, da nur diese die flexible Darstellung der variablen Bildfolge sowie den Anschluss der Motivverweise an das Semantic Web ermöglicht. Unser Datenmodel orientiert sich hierzu an der im Kulturerbe-Bereich verbreiteten CIDOC-CRM-Ontologie, die nicht nur die Datenhaltung nach interoperablen und nachhaltigen Standards sichert, sondern sich auch durch ihre Event-basierte Struktur besonders zur Modellierung des Divertimentos anbietet. Damit beschreitet die Edition exemplarisch Wege zu einer grundlegend neuen, adäquaten Präsentation von Bildkunstwerken im digitalen Medium.