Christian Reidenbach
Vertragsende an der Uni Stuttgart 14.09.2020, das Projekt wird an der Université du Luxembourg weitergeführt
Das Forschungsvorhaben widmet sich dem Corneille’schen Theaterkanon der Jahre 1637 bis 1643 und untersucht ihn nach den Verfahren der intellectual history. In sechs Fallstudien verortet es die Dramentexte und die sie begleitenden Publikationen des Dichters innerhalb der zeitgenössischen Debatten, und zwar in den Feldern von Politik, Philosophie und Religion. Das Theater (als schriftstellerische Praxis, als Interaktion von Figuren und als institutionalisierte Öffentlichkeit) wird dadurch als Ort kenntlich, an dem dramatische und politische Akteure, an dem ästhetische mit offiziellen Interessen und sittlichen Anforderungen in Konkurrenz treten. Durch vergleichende Analysen sollen die Zeitgebundenheit der vertretenen Positionen, die Abweichungen und Anachronismen, die Wiederaufnahmen und Kontrafakturen, aber auch die Mehrdeutigkeiten herausgearbeitet werden, zu denen ein Dramatiker wie Corneille unter seinem Förderer Richelieu genötigt ist.
Insbesondere das Motiv der Entscheidung steht dabei im Fokus: Politischer und ästhetischer Coup folgen in Corneilles Tragödie demselben dezisionistischen Muster: Der Griff nach der politischen Macht und die zu ihrem Erhalt nötigen Interventionen werden mit den Sprachhandlungen des Schriftstellers vergleichbar, der mit seinen Werken um Einfluss und um ein Publikum ringt. In einem Klima normativer Voraussetzungslosigkeit, wie es der geistesgeschichtlichen Lage nach den Religionskriegen entspricht, gewährleisten beide Gesten Handlungsfähigkeit. Indem es den Dramentext als argumentatives Gefüge auffasst, widmet sich das Habilitationsprojekt dem Anliegen, die jeweiligen Positionsnahmen der klassizistischen Tragödien als Resultate von Wahlentscheidungen zu kennzeichnen und den lange Zeit allzu einseitigen Fokus der Corneille-Forschung auf den Helden für eine Untersuchung jener Geistesströmungen und Instanzen zu öffnen, die seine Gestalt überhaupt erst modellieren.