Leitung: Martin Endres (Leipzig), Axel Pichler und Claus Zittel (Stuttgart).
Adornos Ästhetische Theorie zählt zweifellos zu den wirkmächtigsten Schriften zur philosophischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl ist kaum jemanden, der mit ihr arbeitet, bewußt, dass die Textgrundlage in hohem Maße unsicher ist, da Gretel Adorno und Rolf Tiedemann auf der Basis von ca. 2900 Typoskripten posthum einen Lesetext komponiert haben, der vom überlieferten Material hochgradig abstrahiert. Das Forschungsprojekt dient erstens der Erschließung einer paradigmatischen Auswahl an Typoskripten und bereitet zweitens eine exemplarische Edition auf aktuellem editionswissenschaftlichen und textlinguistischem Stand vor. Die ausgewählten Typoskripte werden hierfür faksimiliert, transkribiert, textkritisch ediert, annotiert und kommentiert. Drittens wird die Notwendigkeit einer solchen Edition vorgeführt, indem die interpretatorischen Konsequenzen der vorzunehmenden Textrevision demonstriert werden. Bereits erste Stichproben haben ergeben, dass erhebliche Korrekturen an bisherigen Deutungen zu erwarten sind, da zahlreiche Stellen nun erst in ihrem ursprünglichen Argumentationskontext verortet und zudem sehr viele Bezüge auf literarische, künstlerische und philosophische Quellen erstmals nachvollzogen werden können. Die Neuedition dieses kanonischen Textes soll daher viertens über die Adorno-Forschung hinausweisend zeigen, welchen Einfluß die ästhetische Faktur eines Textes für die Deutungspraxis besitzt und welcher Wert dabei einer philologisch fundierten Methodik zukommt. Ziel des Vorhabens ist es schließlich, die Textkritische Edition als innovative Musteredition anzulegen, die den Zusammenhang von Philologie, Ästhetik und Erkenntnis transparent macht und so insbesondere mit Blick auf die Marbacher Archivbestände zum Vorbild für weitere Editionsprojekte werden kann. Im Marbacher Literaturarchiv liegen vor allem Typoskripte, die häufig handschriftliche Zusätze aufweisen. Für die digitale Edition solcher Typoskripte gibt es bislang kein überzeugendes Modell, das die unterschiedlichen Überarbeitungsstufen in der Transkription visuell sichtbar und als Digitalisat durchsuchbar macht. Die hier zu realisierende Edition soll daher neue Zugänge für die digitale Erschließung philosophischer Texte eröffnen, indem der zukünftigen Forschung stark verfeinerte Methoden der Textkonstitution zur Verfügung gestellt und in ihrer interpretatorischen Relevanz einsichtig gemacht werden.
Weiterführende Hinweise: M. Endres, A. Pichler, C. Zittel: „noch offen“. Prolegomena zu einer textkritischen Edition der „Ästhetischen Theorie“ Adornos (mit), in: editio, 27, 2013, S. 173-204.