Philosophie und Literaturwissenschaft beschäftigen sich zwar beide vordringlich mit Texten, doch herrschen in den beiden Disziplinen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber vor, was ein Text ist und folglich wie er zu interpretieren oder zu edieren sei. In der Philosophie gibt es die Tendenz zu einem eher idealistischen Textverständnis, da man meint, dass der Sinn eines Textes weitgehend unabhängig von dessen materialer Gestalt erfasst werden könnte, hingegen pochen Vertreter der Literaturwissenschaften häufig darauf, dass die besondere Textgestalt sowie deren Genese konstitutiv für die Interpretation sei; es gibt also große Kontraste hinsichtlich der Textontologie, Textästhetik und Funktionsanalyse.
Nicht zuletzt manifestieren sich diese Unterschiede in auffälligen Differenzen zwischen den Editionskonzepten der beiden Fächer, und damit zusammenhängend in anderen Methoden beim Umgang mit Quellen, da intertextualitätstheoretische Überlegungen im Bereich der Philosophie eher selten interpretatorische und editionspraktische Konsequenzen zeitigen. Will man in der Philosophie den "Geist" des Textes treffen, indem man "ideale" Editionen anstrebt "wie sie sich der Autor gewünscht hätte" (Dilthey, Krings), wollen literaturwissenschaftliche Editionen möglichst getreu z. B. den Erstdruck und die handschriftliche oder typographische Überlieferung mit allen Eigentümlichkeiten wiedergeben.
Es ist evident, dass auch hierbei unexplizierte theoretische Vorannahmen ins Spiel kommen, zuweilen mit dem Materialitätsideal ein neuer Positivismus Einzug hält oder - wenn das "Wissen im Entwurf" favorisiert wird, ursprungsphilosophische Ideale unerkannt regieren. Neuere Editionen von Werken, besonders literaturwissenschaftlich affiner Philosophen wie Nietzsche, Kierkegaard und Hölderlin, sind keine Gegenbeispiele, denn sie lassen durch ihre Sonderstellung die sonst gegebenen Differenzen zwischen philosophischen und literaturwissenschaftlichen Textverständnissen noch deutlicher zu Tage treten. Die Spannungen haben sich jüngerer Zeit duch die Entwicklung im Bereich der Digital Humanities weiter verschärft, da immer mehr Texte in ihrer ursprünglichen Druckgestalt (mit originaler Typographie, Illustrationen etc.), aber auch Handschriften und Typoskripte zur Verfügung stehen, dies allerdings in immaterieller Form, was neue Fragen nach der zugrundezulegenden Textontologie, dem Verständnis des Materialitätsbegriffs und den möglichen Funktionsanalysen aufwirft. Es erscheint uns daher dringend geboten, zur Beantwortung dieser Fragen interdisziplinäre Methoden und Konzepte in Philosophie und Literaturwissenschaft zu entwickeln, das methodische Arsenal zu verfeinern und das Lehrpersonal für die in beiden Fächern im Umlauf befindlichen diversen Text- und Materialitätsbegriffe zu sensibilisieren. Auch scheint mit der Klärung der unterschiedlichen texttheoretischen und ästhetischen Auffassungen beider Disziplinen ein die Kommunikationen zwischen beiden Fächern erschwerendes Hindernis identifiziert, das nun überwunden werden kann.
Insbesondere mit Blick auf die in den Lehramtstudiengängen aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe beliebte Fächerkombination "Deutsch/Philosophie" müssen derartige Differenzen zwischen den Fachkulturen ins Bewußtsein gehoben werden, um die Studierenden hier nicht in unnötige Verwirrung zu stürzen.
Axel Pichler / Claus Zittel
Lehrveranstaltungen (Axel Pichler)
- Seminar – Geschriebenes: Zur Genese literarischer und philosophischer Texte
- Seminar – Para-Textualität: Friedrich Nietzsches späte Vorreden
- Seminar – Materie – Material – Materialität
- Seminar – Walter Benjamins späte Schriften zur Ästhetik