Forschungsgruppe am Stuttgart Research Centre for Text Studies
Praktiken der Interpretation und Rezeption von Literatur (PIRL)
Spätestens seit dem Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts verschaffen Rezeptionsästhetik, reader response criticism und in Teilen auch der entstehende Poststrukturalismus einer ebenso einfachen wie überzeugenden Idee einen nachhaltig wirkungsvollen Auftritt auf der literaturtheoretischen Bühne: Leser nehmen die Bedeutung eines Textes weder passiv auf, noch erfassen sie lediglich eine vorgängig existierende Textstruktur; vielmehr erzeugen oder konkretisieren sie die Bedeutung eines Textes erst im Prozess der Lektüre. Obwohl ein grundsätzliches Interesse am Leser und der Rezeption von Literatur in den Philologien bis heute anhält – die kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft sei hier exemplarisch genannt –, ist das Wissen über die Prozesse literarischer Bedeutungskonstituierung und ihres Wandels circa 50 Jahre nach den angesprochenen theoretischen Einsätzen begrenzter als man angesichts einer verhältnismäßig elaborierten innerdisziplinären Ausdifferenzierung in Rezeptions ästhetik, -geschichte und –forschung zunächst erwarten könnte. Vor diesem Hintergrund eint die Forschungsgruppe die Überzeugung, dass der Begriff der „Praktiken“ wie er sich im Rahmen des sogenannten practice turn eingebürgert hat, ein vielversprechendes Werkzeug ist, um die Mechanismen der Bedeutungskonstitution literarischer Texte im Spannungsfeld der drei eingeführten Felder zu beschreiben. Denn sowohl ihre Rezeption in nicht-wissenschaftlichen Kontexten als auch ihre Interpretation durch Experten scheint bis zu einem gewissen Grad regelmäßig und routiniert zu erfolgen und auf einem schwer explizierbaren Knowing-how bzw. einem impliziten Wissen (tacit knowledge) zu beruhen. Natur, historische Varianz und Wechselbeziehungen der entsprechenden Interpretations- und Rezeptionspraktiken stehen im Mittelpunkt der Arbeit der Forschergruppe.
Die Forschungsgruppe wird in einer Serie von Workshops
- die methodischen Problemen und Herausforderungen einer Untersuchung von Praktiken anhand von Textzeugen bearbeiten,
- ausgewählte Interpretations- und Rezeptionspraktiken analysieren, um eine lediglich deutungsakkumulierende rezeptionsgeschichtliche Forschung auf eine Beschreibung von interpretive communities hin zu überschreiten,
- untersuchen, welche Wechselwirkungen es zwischen Rezeptions- oder Lektürepraktiken in nicht-wissenschaftlichen Kontexten und den Textumgangsweisen von Experten gibt und
- prüfen, ob und, wenn ja, wie automatisierte oder quasi-universelle Rezeptionspraktiken in einem Bottom-up-Prozess Interpretationsmethodologien fundieren können.
Die Forschungsgruppe ist am
Stuttgart Research Centre for Text Studies angesiedelt und arbeitet mit nationalen und
internationalen ForscherInnen zusammen, die sich mit den oben genannten Fragen beschäftigen.
Die Gruppe setzt sich derzeit zusammen aus:
- Andrea Albrecht
- Benjamin Gittel
- Sandra Richter
- Jørgen Sneis
- Marcus Willand
Als Kooperationspartner sind ihr assoziiert:
- Ralf Klausnitzer (Berlin)
- Olav Krämer (Freiburg)
- Katja Mellmann (Göttingen)
- Simone Winko (Göttingen)