„Das Ende weißer Immunität“, so titelte die „tageszeitung“ am 24. Juni 2020 und berichtete über den Sturz eines Denkmals für den englischen Sklavenhändler Edward Colston, der als Chef der „Royal African Company“ maßgeblich an der kolonialen Ausbeutung des afrikanischen Kontinents beteiligt war. Auch in Deutschland wird – spätestens seit den Diskussionen um das Berliner Humboldt Forum und die Rückgabe der berühmten Benin-Bronzen – die eigene koloniale Vergangenheit wiederentdeckt. Dass es sich dabei um ein „schwieriges Erbe“ handelt, ist der Öffentlichkeit zwar mittlerweile bekannt. Worin genau diese Schwierigkeit besteht, auf welche Weise etwa spezifische Deutungsmuster des Kolonialismus wirkungsmächtig wurden und wie sie zum Teil bis heute fortbestehen, ist hingegen vielfach unbekannt.
Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel des Projekts darin, eine Anthologie mit repräsentativen Texten zum deutschen Kolonialismus aus dem Zeitraum zwischen 1871 und 1918 vorzulegen, die so bislang nicht zugänglich sind. Der Fokus liegt dabei auf den vier deutschen Kolonien in Afrika (Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Kamerun und Togo). Die Texte sind Teil eines weit gefassten Medienverbunds, der Romane, Erzählungen und Dramen ebenso umfasst wie Gedichte, Briefe, Tagebücher und Lebenserinnerungen, aber auch Reiseberichte, amtliche Schriftstücke und „oral history“-Dokumente. Die Texte liegen teilweise bis heute nicht ediert vor und werden gemeinsam mit Studierenden ausgewählt, wissenschaftlich erschlossen und kommentiert. Ergänzt wird dieses Korpus durch unveröffentlichte Archivmaterialien (u.a. Briefe, Tagebücher, Erinnerungen), die in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart für die Publikation vorbereiten werden.
Aufgrund seiner formalen und inhaltlichen Vielgestaltigkeit eröffnet das Textkorpus neue und teils ungewohnte Perspektiven auf zentrale Phänomene des deutschen Kolonialismus in Afrika. Es sind vor allem Fragen der Wahrnehmungen des „Fremden“, die die verschiedenen Texte miteinander verbinden, und es ist ein wesentliches Ziel des Projekts, gängige Konstruktionen Afrikas und der dort beheimateten Menschen zu erkennen, sie kritisch zu reflektieren und sie methodisch abgesichert in Frage zu stellen. Anhand der verschiedenen Texte werden nicht nur sprachliche Strategien der Aneignung des „Anderen“ und der Selbstvergewisserung der eigenen Position in einem rassistischen Kontext erkennbar, sondern es wird auch deutlich, wie sich Gewalterfahrungen und Herrschaftsvorstellungen in Ego-Dokumenten wie Briefen, Tagebüchern und Lebenserinnerungen entfalten und welchen Anteil solche Texte jenseits der offiziösen Propaganda für den Stellenwert des Kolonialdiskurses im deutschen Kaiserreich hatten. (Text Carsten Kretschmann)